Marcel Liechti, Gehirntrainer GfG, Master of Mathematics UZH
Serie Teil 2: Arbeitsgedaechtnistraining oder IQ? Was ist wichtiger für den Schulerfolg?
Der IQ… Jeder kennt ihn, den Intelligenz-Quotienten, jedoch kaum den Begriff Arbeitsgedaechtnistraining. Schon bei unseren Kindern wird er gemessen und getestet. Und das Ergebnis stand immer dafür, wie schlau jemand ist, oder eben auch nicht. Lange Zeit wurden die IQ-Ergebnisse auch als Vorhersagefaktor genutzt wie der schulische Erfolg später mal aussehen könnte oder würde. Aber ist dieser Wert wirklich so zentral für den Erfolg in der Schule? Wie die jüngere Forschung unter Alloway belegt ist die Arbeitsgedächtniskapazität oder Arbeitsgedächtnisleistung als Vorhersagefaktor aussagekräftiger und sicherer als der IQ. Dieser Artikel erklärt es!
Ein „schlauer“ Mensch namens Alloway konnte daran auch nicht wirklich glauben. Also begannen Untersuchungen mit Kindern, die die Schule noch nicht besuchten. Der Intelligenz-Quotient sowie die Leistungen des Arbeitsgedächtnisses wurden getestet und gemessen, um sie anschließend mit den späteren Schulnoten zu vergleichen.
Dabei kam zum Teil Verblüffendes heraus. Kinder, die einen durchschnittlichen IQ hatten, hätten eigentlich keine Probleme haben dürfen, dem Schulstoff zu folgen und mindestens durchschnittliche Noten zu erzielen. Aber wie es im Leben halt so ist, kam alles anders als gedacht. Einige Kinder mit einem hohen oder durchschnittlichen IQ bekamen im Laufe des Untersuchungszeitraums Probleme in der Schule und erreichten die ursprünglich erwarteten Noten. Das wiederum zeigt, dass der Intelligenz-Quotient und die Notenleistungen in der Schule nicht wirklich zusammenhängen konnten.
Also konzentrierte man sich nun auf die Arbeitsgedächtnis-Kapazität der Schüler und versuchte, zwischen diesem und den Schulnoten eine Verbindung herzustellen. Und siehe da… War die Leistung des Arbeitsgedächtnisses unterdurchschnittlich, hatten die Kinder Schwierigkeiten, dem Stoff zu folgen und halbwegs gute Noten zu erreichen.
Ergebnis: Wenn wir vorhersagen wollen, wie die späteren Leistungen der Kinder in der Schule höchstwahrscheinlich aussehen werden, dürfen wir und nicht auf den IQ konzentrieren, sondern die Arbeitsgedächtnis-Kapazität sollte im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen!
Und es scheint fast unglaublich, aber… Wusste Alloway die Leistungsfähigkeit des Arbeitsgedächtnisses, so konnten die späteren Schulleistungen mit 95%iger Sicherheit vorhergesagt werden. Klingt ja fast wie der Blick in eine Kristallkugel. Nur die Treffsicherheit ist um einiges höher!
Also nochmal: der IQ ist eigentlich nebensächlich. Das Zauberwort lautet Arbeitsgedächtnis-Kapazität!
Wie Wissenschaftler nun mal so sind, mussten diese Ergebnisse aber noch mal überprüft und noch einmal bestätigt werden. Also fand eine weitere Untersuchung mit etwa 70 Schülern statt, bei der die zentrale Frage im Vordergrund stand, welche mentalen Fähigkeiten am wichtigsten für den Erfolg in den schulischen Grundlagen (Rechnen, Lesen & Verstehen und Schreiben) sind. Auch hier wurden wieder IQ-Werte und Arbeitsgedächtnis-Kapazität gemessen. Und auch hier war das Ergebnis eindeutig: der IQ spielt in Bezug auf die erreichten Noten nur eine nebensächliche Rolle. Es kommt auf die Arbeitsgedächtnis-Leistungen an!
In anderen internationalen Studien konnte außerdem herausgefunden werden, dass eine niedrige Leistung des Arbeitsgedächtnisses die Wahrscheinlichkeit für eine Lese- und Rechtschreibschwäche erhöht. Gleiches wurde auch für den Bereich des Rechnens bestätigt. Und es erscheint auch mehr als logisch. Unser Arbeitsgedächtnis ist dafür zuständig, Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten. Wenn beides nicht sonderbar gut funktioniert, wie sollen dann bspw. Textaufgaben im Mathematik-Unterricht richtig gelöst werden? Wenn schriftliche Informationen auf eine mathematische Gleichung übertragen werden sollen, hat unser Arbeitsgedächtnis einfach eine Menge zu tun. Zahlen aufnehmen, Daten aufnehmen, den Text richtig verstehen, die Wörter auf Zahlen übertragen und ganz viel logisches Denken. Wenn das Arbeitsgedächtnis nicht auf Hochtouren arbeitet und wie ein Uhrwerk funktioniert, kann auch die mathematische Lösung nicht wirklich richtig sein… Diese Verbindung zwischen der Arbeitsgedächtnis-Kapazität und den Leistungen im Bereich Mathematik wurden noch von einigen anderen Wissenschaftlern eindeutig belegt.
Zusammenhang zwischen Arbeitsgedächtnis und Sprachenlernen
Andere Forscher beschäftigten sich mit dem Zusammenhang zwischen Arbeitsgedächtnis und dem Erlernen einer neuen Sprache. Und auch hier ist die Arbeitsgedächtniskapazität der zentrale Faktor. Wenn wir eine neue Sprache lernen, müssen wir sehr viel vergleichen und transferieren. Wenn das Verständnis eines Textes in der Muttersprache schon schwer fällt, ist es bei einer fremden Sprache bestimmt nicht besser. Außerdem müssen unzählige neue Vokabeln gelernt werden, das Arbeitsgedächtnis muss in der Lage sein, andere grammatikalische Regeln zu verstehen und diese parallel zur Grammatik der Muttersprache abzuspeichern. Und das Ganze auch noch, ohne alles durcheinander zu bringen. Und ohne bereits Gelerntes einfach zu löschen. Eine große Aufgabe für das Arbeitsgedächtnis. Und je „stärker“ es ist, umso leichter fallen diese Aufgaben.
Ganz besonders heikel wird es für Kinder, die sowohl einen niedrigen IQ, als auch ein eher unterdurchschnittliche Arbeitsgedächtnisleistungen zeigen. Ein niedriger IQ kann im Bereich der schulischen Leistungen gut ausgeglichen werden. Mit einer schlechten Arbeitsgedächtnis-Kapazität geht das leider nicht. Ohne sie sind wir nicht in der Lage zu lernen. Oder nur unter sehr erschwerten Bedingungen. So kann Lernen doch gar keinen Spaß machen, oder?
Arbeitsgedächtnis-Kapazität
Wenn wir den Spieß aber nun mal herum drehen… Was ist mit den „hochbegabten“ Kindern? Hochbegabung wird schließlich auch am IQ gemessen und nicht an der Arbeitsgedächtnis-Kapazität. Mindestens 130 IQ-Punkte müssen wir haben, um als hochbegabt zu gelten. Dann gelten wir nämlich als besonders schlau. Aber hilft das Kindern in der Schule? Sind die Hochbegabten auch gleichzeitig immer die Klassenbesten? In der Realität eindeutig nicht. Viele Eltern versuchen, ihre hochbegabten Kinder besonders zu fördern. Denn viele würden sich im normalen Schulalltag einfach nur langweilen und würden daher eher schlechte Noten schreiben.
Hochbegabung
Auch unter Wissenschaftlern ist das Thema „Hochbegabung“ ein sehr oft erforschtes Gebiet. Einer von ihnen startete eine Langzeitstudie. Viele der hochbegabten Kinder machten eine steile Karriere als Anwälte oder Ärzte. Aber nicht alle. Einige fanden sich im späteren Berufsleben auch in Helfertätigkeiten wieder, für die keine spezielle Ausbildung erforderlich ist. Aber warum ist das so? Ich denke, Sie können sich die Antwort bereits denken…
Zwar hatten alle untersuchten Schüler einen hohen IQ, aber nicht alle hatten eine hohe Arbeitsgedächtnis-Kapazität. Und genau hier auch die Erklärung zu finden, warum manche ihr Leben lang erfolgreich waren und andere eben nicht.
Zur Verdeutlichung ein kleines, typisches Beispiel:
Lisa und Marie besuchen dieselbe Klasse desselben Gymnasiums. Sie sind also ungefähr im gleichen Alter und beide haben einen IQ, der etwas über dem Durchschnitt liegt. Sie besuchen beide den Spanisch-Unterricht, schreiben oft gute Noten, vor allem wenn ein Vokabel-Test oder ähnliches anliegt.
Als in einer Klausur jedoch verlangt wird, ein bestimmtes geschichtliches Ereignis mit der Entwicklung zum heutigen Spanien und dem spanischen Staatsverständnis miteinander in Verbindung zu bringen, wird der Unterschied sehr deutlich. Genügend Faktenwissen über die Geschichte Spaniens haben beide. Lisa fällt es auch nicht schwer, die für die Fragestellung relevanten Informationen abzurufen und sie mit dem heutigen Spanien in Verbindung zu setzen. Ihr Arbeitsgedächtnis funktioniert sehr gut, sodass ihr diese Aufgabe sehr leicht fällt. Die Note lautet: 6!
Marie hingegen fällt das alles sehr schwer. Zwar weiß sie alle Jahreszahlen und die Namen aller Beteiligten, aber das schlussfolgernde Denken und die Übertragung bzw. der Vergleich von abgespeichertem Wissen auf das heutige Spanien ist für sie sehr anstrengend. Sie besteht die Klausur, aber mit ihrer 4er-Note ist sie so gar nicht zufrieden.
Wir sehen also, der IQ ist nicht alles. Vielleicht mag ein hoher IQ oft sehr hilfreich sein, aber ein Garant für gute schulische Leistungen ist er leider überhaupt nicht. Auch, wenn sehr lange Zeit davon ausgegangen wurde. Auch eine Hochbegabung ist deshalb kein aussagekräftiger Faktor für einen guten Schulerfolg.
Wollen wir hierauf bei der Förderung unserer Kinder Rücksicht nehmen, muss ein generelles Umdenken stattfinden. Der IQ kann zwar gemessen werden und das Ergebnis beruhigt mit Sicherheit auch viele Eltern. Aber zum schulischen und somit später auch beruflichen Erfolg trägt er nicht sonderbar viel bei. Hier muss die Konzentration absolut auf der Leistungsfähigkeit des Arbeitsgedächtnisses liegen! Und wir wissen ja mittlerweile auch, dass unser Arbeitsgedächtnis kein festes und unveränderliches Konstrukt ist. Durch nachhaltiges Arbeitsgedächtnis-Training und eine gesunde Lebensweise kann die Leistungsfähigkeit deutlich verbessert werden.
Fazit:
Vielleicht sollte also die klassische Idee von nur Mathe- oder Englisch-Nachhilfe langsam begraben werden. „Arbeitsgedächtnis-Nachhilfe“ könnte unsere Schüler viel einfacher und schneller zum Erfolg führen. Und zwar nicht nur in einem bestimmten Fach, sondern ganz generell und umfassend.